Eine gruselige Geschichte über eine Vogelscheuche, die zum Leben erwacht. Das ist sicher nichts für schwache Nerven! Am besten erzählt Ihr Euch übrigens die Geschichte im Dunkeln bei Kerzenschein… […]
Ein Tag im Oktober
Als ich jünger war, lebte ich auf einer kleinen Farm, draußen auf dem Land, fernab von jeder großen Stadt. Jedes Jahr im Herbst stellte mein Vater viele Vogelscheuchen auf unseren Feldern auf. Nicht nur weil er die Krähen vertreiben wollte, sondern vor allem um die bösen Geister abzuwehren, die in der dunklen Jahreszeit ihr Unwesen treiben. Ich glaubte, mein Vater sei ein wenig abergläubisch. Jedes Jahr stellte er die gleichen Vogelscheuchen auf, Jahr für Jahr. Im Laufe der Zeit hatten diese arg gelitten und sahen ziemlich wüst und zerfleddert aus.
Dann kam der Oktober, den ich nie vergessen werde. Zunächst begann er wie jeder Oktober die Jahre zuvor auch. Die Temperaturen sanken, die Tage wurden kürzer, die Blätter verfärbten sich in rot und gelb und wurden vom Herbstwind durch die Luft gewirbelt.
An einem Sonntag saßen wir Kinder zusammen und beschlossen eine neue Vogelscheuche zu bauen. Wir hatten viele Ideen und trugen flink alles zusammen was wir brauchten. Die Vogelscheuche, die wir bauen wollten, sollte etwas Besonderes werden. Ich wollte eine gruselige Vogelscheuche, denn es war die Zeit kurz vor Halloween.
Nach einigen Stunden, in denen wir fleißig an der Vogelscheuche gebastelt hatten, war sie fertig. Und ich kann Euch sagen, wir hatten eine tolle Arbeit geleistet. Ich hatte niemals zuvor eine hässlichere und gruseligere Vogelscheuche gesehen. Wir waren sehr stolz auf unser Werk.
Meine Mutter rief uns zum Abendbrot und so stellten wir noch schnell unsere Vogelscheuche im Maisfeld auf., so dass ich sie von meinem Zimmerfenster aus gut sehen konnte.
Dann liefen wir ins Haus und aßen unser Abendbrot. Bei lustigen Gesprächen und gutem Essen vergaßen wir die Vogelscheuche. Auf einmal bemerkten wir, dass der Wind stärker geworden war und es zu blitzen und donnern begann. Das war sehr merkwürdig, denn der Wetterbericht hatte kein Gewitter vorausgesagt. Es sah so aus, als ob es eine stürmische Nacht werden würde.
Die Nacht
Als ich ins Bett ging, begann es zu regnen. Ich machte mir Sorgen um meine neue Vogelscheuche und schaute aus dem Fenster. Was ich sah, erschreckte mich. Die Vogelscheuche war noch da, aber nicht wo wir sie aufgebaut hatten. Sie stand nun einige Meter weiter rechts. Verwirrt stand ich am Fenster und beobachtete die Vogelscheuche.
Bei jedem Blitz sah ich die Vogelscheuche im hellen Licht auf dem Feld stehen. Es schien jedoch, dass sie sich stets bewegte, wenn der Himmel dunkel war, so dass sie bei jedem weiteren Blitz stets an einer anderen Stelle erschien.
Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass ich mir das alles nur einbildete, zog meinen Schlafanzug an und ging ins Bett. Später in der Nacht weckte mich ein lauter Donner des Gewitters, das immer noch tobte. Der Regen war so dicht, dass es schwierig war etwas zu erkennen. Ich zog also meine Schuhe an und schlich mich nach draußen, um nach meiner Vogelscheuche zu sehen.
Nicht sicher, wo sie stand, lief ich durch das Gewitter, fast blind durch den kalten Regen, der mir ins Gesicht peitschte. Tolpatschig stolperte ich über einen Ast, der vom Baum abgebrochen war und fiel kopfüber in eine Schlammlache. Als ich hoch blickte, stand meine Vogelscheuche vor mir und starrte mich an. Ihre Augen waren riesig und glühten rot. So schnell ich konnte sprang ich auf und rannte ohne zurück zu sehen schreiend ins Haus.
Den Rest der Nacht verbrachte ich in einem unruhigen Schlaf, in dem ich mich ständig im Bett hin und her wälzte. Als ich aufwachte schien die Sonne draußen und es roch nach frischem Speck und Rührei. Meinen Eltern wollte ich nichts von meinem nächtlichen Erlebnis erzählen, so saß ich schweigend am Tisch und aß.
Nach dem Frühstück ging ich ziemlich ängstlich und besorgt nach draußen um mich umzusehen. Mein Vater überprüfte bereits das Haus, die Scheune und Ställe nach Schäden durch den Sturm. Aber ich sah mich nur nach meiner Vogelscheuche um.
Ich sah die anderen Vogelscheuche, die alle an ihrem Platz standen, aber meine Vogelscheuche war nicht zu sehen.
Traurig und verwirrt begann ich zu weinen, aber nicht über den Verlust der Vogelscheuche, sondern aus purer Angst. Mein Vater wollte mich trösten und sagte, dass die Vogelscheuche sehr wahrscheinlich vom Wind weggeweht worden war und wir sie bei der Ernte im Feld finden werden. Ich wusste es besser. Irgendwie, auf irgendeine Art, war diese Vogelscheuche zu Leben erwacht. Wie, ich wusste es nicht.
Jahre später
Die Jahre gingen dann hin und bis heute habe ich meine Vogelscheuche nie mehr wieder gesehen. Was passierte damals in dieser stürmischen Oktobernacht? Halten Vogelscheuchen wirklich böse Geister ab oder werden sie von ihnen besessen?
Mittlerweile lebe ich nicht mehr auf einer Farm, sondern in einer großen Stadt. Aber seit dieser Nacht bin ich nie mehr bei einem Gewitter draußen gewesen.
Eine englische Kurzgeschichte "The Scarecrow".
Übersetzung von Silke Woitas-Krüder.
© Copyright 2020 - Alle Rechte an der deutschen Übersetzung vorbehalten.
Bildnachweis:
Bild von Adina Voicu auf Pixabay, Public Domain-ähnlich
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